Fernöstliches Tagebuch
von Helmut Rieländer
Seite 41, Teil 2 von 2
10. bis 16. Mai 2009
Im Rahmen eines Tagebuches wäre es zuviel, auf die ganzen Widersprüche, die sich aus der Herrschaft der Trinh im Norden (mit Hanoi als Hauptstadt) und der Nguyen weiter im Süden ( mit ihrer Hauptstadt Hue) im einzelnen einzugehen und was sie dann bewog, jeweils ihre eignen Wege zu gehen. Gleiche Systeme mit unterschiedlicher Herrschaft eigentlich eines Volkes: hier Korruption und Machtmissbrauch und dort rücksichtsloses Vordringen nach der Niederwerfung der Cham, gen Mekong-Delta, mit dem Ziel, die Khmer letztendlich zu unterwerfen. Pioniergeist und Aufbruchstimmung schlagen immer bei solchen imperialen Unternehmungen früher oder später in Anarchie und Gesetzlosigkeit um. Beide Höfe in Hanoi und Hue wetteifern parallel in Prunk und Pomp und lassen letztendlich die historische Chance aus, das Land zu einen, um allen in ihm Wohnenden zu Recht und Wohlstand zu verhelfen. Nach unglaublicher Steuerlast und dem verhassten und unsinnig gewordenen Militärdienst erheben sich die abhängigen Bauern unter Führung der Brüder Nguyen 1775: die Bauernrevolte die wie der Wind vor dem Hintergrund der Widersprüche den gesamten Süden erfasst. Elf Jahre nach der nach Einnahme der Aufständischen Hues wird auch Hanoi im Sturm erobert. Nachdem es nach Einsetzen der ehemaligen Le-Herrscherfamilie zu Zwisten kommt, da diese mit den alten Widersachern den Chinesen paktieren, setzen die siegreichen Nguyen – die ursprünglich aus der Händler- und Kaufleutezunft stammen - ihren jüngsten Bruder auf den Herrscherthron in Hanoi. Der junge Kaiser Quang Trung schafft es während seiner nur drei Jahre währenden Herrschaft, die chinesische Sprache abzuschaffen, maßgeblich Handel, Handwerk und erste Ansätze von Kleinindustrie (Minen, Bergwerke, Werften, Papierfabriken) zu fördern.
Frauen auf dem Kajenmarkt in Hôi An am 13.02.09
Die Bauern aber hoffen vergeblich auf die notwendige Neuverteilung von Grund und Boden. Nach seinem frühen Tod 1792 droht das gerade im Erstarken begriffene Reich wiederum zu zerfallen. (Informationen nach dito)
Erst im Jahre 1802 gelingt es nach vielen Wirren, das Reich zu einen, um ihm dem Namen zu geben, den es noch heute trägt. Hauptstadt wird Hue, die Heimat des inzwischen starken Nguyen-Clans... mitten im Zentrum und zwischen Hanoi im Norden und Saigon im Süden. Es folgen Monarchen, die durch Lenken, Schalten und Walten, das neu erstandene Reich vom traditionellen Staat, nach konfuzianischem Muster (Gia Long 1802 – 1820) aus der Kleinstadt eine prunkvolle Residenz nach Pekinger Vorbild und Chinesisch als Hofsprache zu etablieren.
Hue heute: Fotografen machen Modeaufnahmen auf dem Gelände der ehemaligen kaiserlichen Residenz
Das neu erwachte Kolonialstreben verschiedener europäischer Staaten führt zu Widersprüchen in der durch überzeugte konfuzianische Orthodoxie geprägten Zentralmacht – unter Minh Mang (1820 -1842) und dem nicht tatsächlichen Eingehen auf den gleichberechtigten Umgang mit den Bauern. Durch Festtagsverbote und Kleiderverordnungen, ziehen sich die Herrscher in Hue den Spott und die Nichtachtung der Untertanen zu.
Dem dritten Herrscher Tu Duc (1847 – 1883) zerrinnt das Reich zwischen den Händen. Die vorwärts schreitenden Französischen Kolonialherren ‚wittern Morgenluft’. Am Ende seiner Herrschaft hinterlässt er ein in widersprüchliche Interessen zerrissenes vietnamesisches Reich. Die Französische Handelskammer sagte schon 1879 vor Tu Ducs Ableben:
„ Die Eroberung von fast 15 Millionen neuen Konsumenten und Märkten, auf denen unsere Industrieerzeugnisse gegen wertvolle Rohstoffe eingetauscht werden können, verdient gewiss all unsere Anstrengungen.“
Und der Gouverneur de Vilers äußert sich zwei Jahre später noch eindeutiger, vor dem Hintergrund der bereitstehenden britischen Kolonialmacht:
„ Die Frucht ist reif und die Zeit gekommen, sie zu pflücken. Wenn wir es nicht tun, dann tun es andere. Wir sollten nehmen, was wir kriegen können.“
(beide Zitate aus: Kothmann, H. a.a.O. Seite 141 )
Die sog. Chistenverfolgung, die von Missionaren heraufbeschworen wird, setzt eine Armada von französischen Kanonenbooten in Bewegung. Unter diesem Vorwand wird 1847 und 1858 Tourane (Da Nang) auf Geheiß französischer Admiräle bombardiert und Saigon wird von französischen Truppen 1859 besetzt... die Kolonialisierung des vietnamesischen Kaiserreiches nimmt 1859 seinen Lauf... und 1883 beherrscht die französische Kolonialmacht das ganze Land. Individueller ‚Unternehmergeist’ führte letztendlich zu dieser Besetzung, mit der die Französische Zentralregierung in Paris zu Beginn herzlich wenig anfangen kann. Cochinchina wie die Kolonie nun genannt wird, ist danach Jahrzehnte nur von der franz. Kriegsmarine regiert worden. In dieser Zeit wird versucht, einen funktionstüchtigen Kolonialapparat aufzubauen. Die junge Kolonie soll sich aus ihrer Rückständigkeit lösen, um es als Anlage/Rendite-Objekt für französisches Kapital stärker ‚interessant zu machen’. Die französischen Besatzer lassen unter unglaublichen Entbehrungen und hunderttausenden von Toten, Vietnam mit einem Eisenbahnnetz überziehen. Ein weit verzweigtes Straßennetz wird ebenso ausgebaut, wie die für den kolonialen Im-und vor allen Dingen Export von Gütern und begehrten Rohstoffen Häfen Saigon und Haiphong (unweit von Hanoi). Beide Häfen sind wichtig für im Süden die Plantagenwirtschaft (Reis und Kautschuk) und im Norden die Bergwerke von Tonkin (Kohle und Eisenerz).
Der Hafen von Saigon heute: auf dem Sai Gon Fluss in der Nähe des Containerhafens am 1. Feb. 2009
Millionen von Bauern werden enteignet, ihre Besitze meist zu Großgrundbesitz umgemünzt und sie werden als Kulis von einem Ende des Landes zum andern verfrachtet. Dazu kommen hohe Steuern(Alkohol, Opium, Glücksspiel und Salz) und Abgaben der nicht ‚Leibeigenen’. Die Salzsteuer führt zu ‚Ernährungsengpässen’, der Fisch kann nicht mehr fermentiert werden. Reis wird wesentlich exportiert und das besetzte und drangsalierte Vietnam schließt mengenmäßig zu den bisherigen Reisexporteuren dieses Erdteils zu Thailand und Birma auf. Das Volk aber hungert! Die drei Säulen der Kolonialökonomie bilden Reis, Kautschuk und Kohle. Die Lebensbedingungen der Bewohner sind verheerend, es sei denn, sie kollaborieren mit den Kolonialherren. So wächst in beispielsweise Hanoi eine einflussreiche, aber politisch ohnmächtige kleinbürgerliche Mittelschicht heran. Das Gros der verbliebenen armen Landbevölkerung, der Minenarbeiter und Plantagenerntehelfer darbt ein elendes Leben am Existenzminimum in Krankheit und Entbehrung.
Es dauert, bis sich der Widerstand der unterdrückten Vietnamesen regt und organisiert. Im ausländischen Hongkong gründet Ho Chi Minh 1930 die Kommunistische Partei Vietnams. Sie organisieren sich vor dem Hintergrund des Wissens,
„ ...dass das Kolonialregime weder durch Attentate noch durch Verhandlungen und Reformen zu stürzen ist, sondern allein durch eine Mobilisierung der gesamten Bevölkerung und eine soziale Umwälzung der bestehenden Verhältnisse.“ (aus: Kothmann, H. a.a.O Seite 143)
Das Innere der Post in Ho Chi Minh City/Saigon mit einem großen Portait des ersten Präsidenten der Soz. Rep. Vietnams an der Stirnseite der Schalterhalle am 30.01.09
Tiziano Terzani – schon auf Seite 38 habe ich ihn aus seinem Buch „ Das Ende ist mein Anfang“ über Kambodscha und seine Erfahrungen damals als Journalist dort erzählen lassen - im Gespräch mit seinem Sohn Folco über diese Phase des Kolonialismus in Vietnam und seinen historischen Folgen:
„...Ende des 19. Jahrhunderts, im Zuge der Kolonialisierung, mit der der verfluchte Westen sich überall Ressourcen unter den Nagel riss, die ihm nicht zustanden, kamen dann die Franzosen – und in dem Moment , in dem ihre Schiffe in den Hafen von Hanoi einliefen, begannen die Vietnamesen zu schießen. Gleich am ersten Tag! Sie haben dann nie mehr aufgehört, nie, das muss man sich mal überlegen! Bis 1975, als der Vietnamkrieg zu Ende war.
1954 springen die Amerikaner, diese Heuchler, den Franzosen in Indochina nicht etwa bei, sondern warten ab, bis diese in Dien Bien Phu eine endgültige Niederlage erleiden und gedemütigt abziehen müssen. Dann übernehmen sie die Rolle des ‚weißen Unterdrückers’, aber auf ihre Weise: zunächst nicht mit Hilfe von Truppen, sondern durch ihren Neokolonialismus. Sie unterstützen ein westlich orientiertes Regime im Süden und bringen Kapitalismus und Konsumismus ins Land. Auf der Genfer Konferenz von 1954 war die Teilung von Vietnam und die Durchführung von Wahlen beschlossen worden, die Ho Chi Minh, der kommunistische Präsident Nordvietnams, haushoch gewonnen hätte. Die Amerikaner aber stützten das Regime im Süden und verhinderten auf diese Weise den natürlichen Lauf der Geschichte.
Dazu muss man wissen, dass Kommunismus und Marxismus-Leninismus in Vietnam mehr noch als in China von den Nationalisten als ideologische Waffe für den Befreiungskampf eingesetzt wurden. Ho Chi Minh war in Paris zum Kommunisten geworden, als er begriff, dass der Marxismus-Leninismus, wie er in den besten Zeiten der Sowjetunion praktiziert worden war – in einem von großem Idealismus geprägten Moment, gleich nach der Revolution - , die Disziplin, die Härte, die ideologische Struktur liefern konnte, die sein Land und seine nationalistische Bewegung in diesem Moment benötigten. Die Vietnamesen als Kommunisten abzustempeln, ist deshalb ein gravierender Fehler. Sie waren vor allem Nationalisten. Das ist eine historische Tatsache, die viele meiner Kollegen nie begriffen haben. Sie hielten den Vietnamkrieg für eine Auseinandersetzung zwischen Kommunisten und Antikommunisten, doch darauf darf man ihn nicht reduzieren. Es war vielmehr der letzte große Kampf um die Unabhängigkeit des vietnamesischen Volkes.“ (aus Terzani, Tiziano / Das Ende ist mein Anfang /
München 2008 Seite 93 ff)
Das Geschehen um den Vietnamkrieg wird vielen meiner Leser noch einigermaßen präsent sein. Die Haltung zu diesem Krieg der auf, für die Amerikaner, völlig fremdem Territorium – übrigens wie in den letzten hundert Jahren immer – trug im westlichen Ausland und auch den USA zur Politisierung junger Menschen bei. Auch T. Tiziano gehörte als junger Mensch, in Vietnam und in den Nachbarstaaten als Journalist in diesen Jahren arbeitend, dazu. Hier im Gespräch mit seinem Sohn Folco;
„FOLCO: Was hat dieser Krieg für dich bedeutet?
TIZIANO: Mein Werdegang hatte mich dazu gebracht, mich immer spontan gegen jede Art von Unrecht zu stellen. Und auf welcher Seite das Unrecht in diesem Krieg war, sprang einem geradezu in die Augen!
Reisbauern auf einem Feld westlich von Hanoi am 21.02.09
So fuhrst du etwa durch die wunderschöne vietnamesische Landschaft mit den tiefgrünen Reisfeldern, sahst die schwarz gekleideten Bauern mit ihren Strohhüten auf dem Kopf, die schlichten Häuser aus Holz und Stroh, die auf dem gestampften Lehmboden standen – und auf einmal sahst du den Krieg kommen, die Panzer.
Was mich so umwarf, war der Widerspruch zwischen der extrem einfachen, ja archaischen vietnamesischen Gesellschaft und der Modernität, die der Krieg ihr aufzwang. Die Waffen, die Panzer, die Bomben passten da überhaupt nicht hin! Sie hatten dort einfach nichts verloren!
FOLCO: Und darüber hast du geschrieben?
TIZIANO: Zweifellos habe ich über diesen Krieg mit einer Sympathie für die Vietcong berichtet. Wie konnte jemand, der das Herz am rechten Fleck hatte, denn auch Sympathie für die Amerikaner empfinden? Was hatten die da zu suchen?! Bei diesem Volk von armen Schluckern, die, in Lumpen gehüllt und mit einem Strohhut auf den Kopf, mit ihren Büchsen gegen die höllische amerikanische Kriegsmaschinerie anschossen! Du konntest gar nicht anders, Folco, als die Eindringlinge zu hassen. Wer die B-52 einmal bei so einem flächendeckenden Bombardement erlebt hatte und an die Bauern da unten in den Dörfern dachte oder meinetwegen auch an die Soldaten, die sich mit den Händen Erdlöcher gegraben, Palmenzweige darüber gedeckt und sich darin verborgen hatten, konnte sich einfach nicht auf die Seite der anderen stellen, die aus einer Höhe von mehreren Kilometern auf Knopfdruck Bomben oder – was noch schlimmer war – Napalm abwarfen. Diese Bombardements der B-52 waren entsetzlich, die totale Vernichtung...“
(aus: Terzani, T. a.a.O. Seite 89 f)
Der Krieg der amerikanischen GIs und ihrer südvietnamesischen Marionetten wehrte fast zehn Jahre. Die letzten drei Jahre hatten sich die amerikanischen Soldaten aus dem Land zurückgezogen, zu groß war die Gegnerschaft (er belastete auch übermäßig den US-Haushalt) zu diesem Krieg im eigenen Land, aber auch im westlichen Ausland. In kurzer Zeit besetzten die FNL, die Nordvietnamesischen Truppen, und der Vietcong das Land. Als letzte Bastion der alten Herrschaft fiel Saigon.
Ich werde über das weitere Geschehen noch einmal Tiziano Terzani im Gespräch mit seinem Sohn Folco zu Wort kommen lassen. Der Autor lässt in den letzten Lebensmonaten noch einmal die Zeit als Journalist in Südostasien und anderen Teilen der asiatischen Welt an sich vorüberziehen. Er war auch bei der Besetzung des Vietcong und der FNL (Befreiungsfront Vietnams) in Saigon am 30. April 1975 dabei.
„ ..FOLCO: Bei der Befreiung Saigons warst du also mit dabei.
TIZIANO: Ja. In der Nacht, als klar wurde, dass die Stadt umzingelt war und nicht mehr länger standhalten würde, war mir schlecht vor Angst, Folco, und ich frage mich, wie ich mich schützen konnte. Ich ging in all die leeren Zimmer des Hotels – die meisten Journalisten waren an jenem Morgen in fliegender Hast abgereist, nur etwa zwanzig von uns waren dageblieben – und nahm die Matratzen mit, nicht um darauf zu schlafen, sondern um im Fall von Raketeneinschlägen darunter zu schlüpfen und mich so wenigstens vor den Splittern zu schützen.
Die Kommunisten, die Vietcong, begannen, in Saigon einzumarschieren. Die Amerikaner flohen in ihren Hubschraubern mit den großen Scheinwerfern, viele Leute klammerten sich an die Kufen, wurden aber abgeschüttelt. In der amerikanischen Botschaft herrschte Chaos.
In jener Nacht konntest du die Geschichte spüren, Folco.
Als ich die ersten Panzer in die Stadt einfahren sah, als ich den ersten Mannschaftswagen voller Vietcong-Rebellen die Rue Catinat herunterkommen sah und sie giai phong! – Freiheit ! – riefen, war das für mich einer der Momente, die Geschichte schreiben.
Die rote Fahne mit dem gelben Stern, die vietnamesische Flagge am Fahnenmast der Zitadelle vor dem Kaiserpalast in Hue am 17.02.09
Ich brach in Tränen aus.
Nicht nur, weil der Krieg nun aus war, sondern weil ich den Puls der Zeit spürte. Das war ein historischer Moment. Wenn du dreißig Jahre später darüber nachdenkst, hat jener Tag tatsächlich die Geschichte Indochinas (wie ich diesen Ausdruck hasse und für so falsch halte, der Tagebuchschreiber) verändert. Du kannst sagen, was du willst, die Kommunisten mögen Schlimmes angerichtet haben, darüber kann man gern diskutieren – aber das war Geschichte. Das habe ich immer so empfunden.“
(aus: Terzani, T. a.a.O. Seite 137).
Was ist daraus geworden? Wo steht diese sozialistische Gesellschaft – wie sie sich immer noch nennt... und viele es auch so verstanden wissen wollen – heute, in einer Welt der vergangenen Krise und dem ‚Untergang vieler sog. Sozialistischer Staaten’? Aber wir leben auch in einer Zeit der großen wirtschaftlichen und politischen Krise der kapitalistischen Länder:
Vietnam hat sich von dem Joch des Kolonialismus und des Imperialismus befreit; ging aber nach dem Sieg über die US-Amerikaner und ihre südvietnamesischen Marionetten neue Abhängigkeiten ein. Gleich nach dem Ende des Krieges verhängten die USA ein Embargo. Zuerst gegen Nord- dann auch – nach der Vereinigung – gegen gesamt Vietnam. Daraufhin ziehen sich auch alle übrigen Länder von Vietnam zurück. Selbst humanitäre Hilfe wird nicht geleistet.
Nun wetteifern die beiden verfeindeten Staaten China und die Sowjetunion um die Unterstützung des neuen sozialistischen Staates. Der Vorwurf ‚Hanoi’ hätte sich Moskau an den Hals geworfen und die Enteignung der in Vietnam lebenden Auslandschinesen führte dann zum Ende der chinesisch-vietnamesischen Beziehungen. Die negativen historisch bedingten Erfahrungen mit dem ‚großen Reich im Norden’, lassen eher andere Verbindungen zu.
1978 kommt – nach dem Scheitern von Verhandlungen mit den USA – ein Freundschaftsvertrag mit der Sowjetunion zustande.
Zu Beginn besagten Jahres hatte ‚Hanoi’ eine „zweite Schlacht um Saigon“ begonnen. Die Währungsreform und Enteignung der ‚blühenden’ Privat- und Spekulationswirtschaft (dieses gilt besonders für das Saigoner chinesische Viertel Cho Lon) führte zu einer Massenflucht Hunderttausender über das Südchinesische Meer in die benachbarten Länder. Die sog. Boat People versuchten auf diese Weise Gold und Devisen, ihr angehäuftes Vermögen aus der Kriegswirtschaft über die Grenze, besser über das Meer zu retten. Ergebnis war der partielle Zusammenbruch der Privatwirtschaft, der das Land in chaotische Verhältnisse stürzte.
Nach weitern acht Jahren wird 1986 die Enteignung Stück für Stück wieder zurück genommen (‚Reform’) und 1991 wird der Privatbesitz verfassungsmäßig wieder vereinbart.
Auf die Zusammenstöße mit der chinesischen Armee vor dem Hintergrund der auslaufenden Kulturrevolution und der Klage über die Zusammenarbeit mit der Sowjetunion, sowie den Kambodscha-Krieg gehe ich hier nicht weiter ein, da es den Rahmen sprengen würde.
Und heute....?
Heute existieren Staatsbetriebe und Privatwirtschaft nebeneinander!
Die Schlüsselindustrien, die mit Verlusten arbeiten, müssen unterstützt werden. (heute noch so: von den 3000 Staatsbetrieben müssen über die Hälfte unterstützt werden).
Die private Wirtschaft erstreckt sich wesentlich auf den Einzelhandel und im großen Maße auf Dienstleistungen. Hier ist der Touristenstrom ein wichtiges Feld.
Viele der Konsumgüter werden halblegal oder illegal importiert und legen die eigene Wirtschaft auf diesem Sektor fast lahm. Die staatliche Verfolgung versiegt vor dem Hintergrund schlecht bezahlter Staatsbeamter... Korruption allerorten!
Ausländische Investoren von Japan bis zu den USA sorgen dabei dafür auf dem Sektor der Ölerzeugung bis zum Tourismus, dass Geld in Abhängigkeit der ausländischen Investoren in das Land fließt. Von einem unabhängigen im Aufbau begriffenen sozialistischen Staat kann schon lange keine Rede mehr sein.
Allein die sozialen Belange werden von staatlicher Seite immer noch gestützt.
Die Lebenserwartung liegt höher als in den vergleichbaren Nachbarländern (Lebenserwartung = 69,5 Jahre).
Leider wurde 1990 die freie Krankenhausbehandlung kostenpflichtig. Trotz vieler Hilfs- und Gesundheitsprogramme, besonders auf dem Lande, greift eine bessere medizinische Versorgung erst langsam. Fast jedes vierte Kind leidet immer noch an Unter- oder Mangelernährung, fast 10% der Bevölkerung leidet noch heute unter den Folgen des Krieges, sei es direkt (Schwerbeschädigte, Invaliden, Krüppel) oder indirekt als Opfer der auf Generationen hinaus grausamen ökologischen Kriegsführung der USA.
Agent Orange Opfer und ihre Nachfahren in der „27.-7.-Handycraft-Factory“ in Hoc Môn bei Saigon am 2. Februar 2009
Was ist vom Sozialismus geblieben?
Durch die „Reformen“ sind die Verstaatlichungen weitgehend zurückgefahren. Es hat sich wieder eine Zwei-Klassen-Gesellschaft etabliert: die einen – Städter, Händler und Gewerbetreibende – haben es zu einigem Wohlstand und Ansehen gebracht. Die ‚andere Schicht’ sind die Angestellten, Beamten und Arbeiter in der Stadt, die mehr schlecht als recht vom staatlichen Einkommen leben können, ebenso wie die Landbevölkerung, die sich zunehmend hilflos dem globalen Wettbewerb ausgesetzt sieht. (Informationen: Kothmann, H. a.a.O. Abschnitte über Politik, Geschichte und Wirtschaft Vietnams)
Diese beiden parallel-existierenden Systeme von privatem Handel und staatlicher Zuwendung, macht aus diesem Staat eine fragwürdige Veranstaltung: noch nennt er sich sozialistisch... aber welches der zwei Systeme wird sich letztlich durchsetzen?!
. . .
Menschen in Hanoi: auf dem Gelände des Literatur- . . . . . .Auf einer Hafenfähre in Hô An am 14.02.09
tempels am 22.02.2009
Junge Frauen vordem QuocTu Giam (Institut der Söhne des Staates) in Hanoi am 22.02.2009
Aber ist ‚unser’ System denn nun besser? Bedarf es nicht hier auch einer grundlegenden Veränderung, nachdem was ich tausende von Kilometern entfernt immer wieder über die Krise in den Industrieländern - besser kapitalistischen Ländern - höre und lese.
Ein Freund aus Deutschland schrieb mir vor drei Wochen über die Seite (38)
„ ...über Kambodscha war sehr beeindruckend. Der historische Vergleich der politischen Systementwicklung in dieser Region ist doch sehr aufschlussreich, gerade heute, da die gegenwärtige Erschütterung des globalen Kapitalismus die Systemfrage in den Raum geworfen hat....“
Kein System, keine Auseinandersetzung, kein zwischenmenschliches Sein kommt an seinen Endpunkt der Glückseligkeit. Es ist immer wieder Veränderung angesagt, Veränderung und Auseinandersetzung. Stillstand ist der Tod!
Aber welches System ist geeignet für unseren Globus und der zunehmenden Probleme des Lebens auf diesem Erdenrund?
Das Streben nach größerer Gerechtigkeit, der Kampf gegen Korruption und Machtmissbrauch zur Selbstbereicherung scheint sich durch das eigene, aber auch die Länder, die ich bereist habe, zu ziehen.
Nach diesem eingehenden Exkurs über die Geschichte Vietnams – während der Zeit des Schreibens hat sich das Wetter sehr gewandelt – rüste ich mich nun vom Gepäck her, aber auch mental, für die Heimreise.
War die Witterung zu Beginn der Woche derartig drückend, dass ich nur mit einer Hose bekleidet bei 37-38°C, den Ventilator auf Stufe 3, am Notebook stand, so hat sich das Wetter im Laufe der letzten halben Woche radikal verändert!
Alle hier im Vorort sagen, dass die Regenperiode noch nie so früh eingesetzt hat. Inzwischen ist das drückend heiße Wetter niedrigeren Temperaturen, aber einer Witterung mit hoher schweißtreibender Luftfeuchtigkeit gewichen.
Zuerst in den Nächten, nun aber auch am Tage, wechseln sich auf der einen Seite Wolkenphasen mit zwischenzeitlichem Sonnenschein mit unglaublichen Wolkenbrüchen ab.
Der Himmel weint zum Abschied: das Gegenüber des Häuschens, das ich im Vorort von Chiang Rai - Sansai sip-soong Panna – bewohne am 14.05.09
Am selben Tage bin ich noch einmal in die Lanna - Post in der Phaholyothin Road gegangen und habe mir ein zweites Paket mit dem Fassungsvermögen von 25 Kg besorgt. In der kleinen Schalterhalle warten viele Menschen. Alle haben Zahlenkarten wie an der Wursttheke im Supermarkt gezogen. Es dauert eine Weile bis auch ich an der Reihe bin. Es bedient mich derselbe Postbeamte, bei dem ich im Dezember mein großes Paket für meine Freundin in Deutschland aufgegeben habe. Damals grinste er mich breit an, bei der Größe des Pakets und dem Adressaten. Er wies auf das Paket und sagte strahlend: „Klisssmattt?!“
Ich schaute ihn etwas verdutzt an und schaltete zwei Sekunden später und sagte:“ Yes, for Christmas!“
Er händigte mir nun eine weitere Pakethülle aus, damit ich morgen auch noch den Rest meiner übergewichtigen Habe nach Deutschland bugsieren lassen kann.
Außerdem waren heute Vormittag meine SILs (Stempel) für meine Serie bei den Bergvölkern fertig geworden. Sehr zufrieden trug ich sie nach Hause und machte gleich einige Stempelproben auf Blancopapier. Sie sind wirklich gut geworden und ich freue mich, sie demnächst für die Ausstellung einsetzen zu können.
Endlich: sie sind fertig die SILs für die Landschaftsserie und die Porträtserie der Karen. Chiang Rai am 15.05.09 / Besonders gedankt seien Tom und Simone in Bremen, für ihre Mithilfe des passenden Programms
Nun sind die letzten vier Tage angebrochen und mir wird etwas weh ums Herz. Zum einen vor dem bevorstehenden Abschied von den sehr netten und zuvorkommenden Nachbarn hier in Sansai, zum andern vor dem Hintergrund der mich erwartenden anderen Welt in Europa. Wie werde ich den Sprung nach fast zehn Monaten schaffen: von der einen in die ganz andere Kultur. Ich bin sehr gespannt auf die Situation, die Menschen, auch die Freunde und das ganz andere Leben, in allen Bezügen!
Auf der nächsten und gleichzeitig letzten Seite möchte ich mich zum einen dem Nachbarland Laos und auch meinem Gastland Thailand widmen. Das soll keine Abrechnung werden, sondern eine Einschätzung des Erlebten der beiden unterschiedlichen Länder und Staaten. Diese Seite erscheint erst am Samstag, den 30. Mai.
Ganz zum Schluss möchte ich den bereits über einem Dutzend Menschen danken, für ihre zum Teil sehr ausführlichen Zuschriften zur Einschätzung meines Tagebuches. Bitte sendet mir weiterhin Stellungnahmen. Es können positive aber auch kritische Darstellungen des von mir verfassten Textes und auch der Abbildungen geäußert werden. Ich freue mich über jede Mail!!
Ich werde auch versuchen jede Mail sehr persönlich zu beantworten. Bis zur letzten Seite mit einer Zusammenfassung am 30.05 und hier noch einmal meine Mailadresse: rielaender_kun@web.de