Fernöstliches Tagebuch
von Helmut Rieländer
Seite 41, Teil 1 von 2
10. bis 16. Mai 2009
Auch diese Woche, nach den beiden umfangreichen Tagebuchseiten über die beeindruckende Fahrt über die Berge südlich von Mae Hong Son, zuerst der kurze Besuch bei dem Bergvolks der Hmong und anschließend die Fahrt zu mehreren Dörfern der weißen Karen, werden für mich bleibende Erinnerungen sein. Zu eindrucksvoll waren die eineinhalb Tage in dem Dorf Huai Sai und das Porträtieren vieler eindrucksvoller Gesichter ihrer Bewohner.
Einige Tage zuvor dann noch die schöne Fahrt in die nordöstlichste Ecke dieser Region Thailands, nach Mae Aw oder auch Rak Thai.
Pinsel- Bambuskieltuschzeichnung des chinesischen Ortes Mae Aw in meinem Skizzen- und Reisetagebuch am 27.04.02
Auch das kleine Städtchen Mae Hong Son, was auf den Besucher solch eine ruhige in sich ruhende Ausstrahlung hat und in dem man sich gut ausruhen und erholen kann, stahlt mit seinen rot blühenden Bäumen und den hohen Bergen ringsum eine besondere Atmosphäre aus. Bis heute kenne ich den deutschen Namen dieser phantastischen Rotblüher nicht. Auch die Nachbarn in Sansai, die ich heute noch einmal fragte, konnten mir die thailändische Bezeichnung nicht nennen.
‚Rote Bäume’ im Ortskern von Mae Hong Son am 2.05.09
Rote Blüte am Jong Kham See in Mae Hong Son am 3.05.09
Packen und parallel über Vietnam nachdenken, das geht!
Ich erinnere mich noch als wäre es heute Morgen gewesen, an erste Eindrücke, die von dem für uns so abgeschottet wirkenden Land bei meiner Ankunft am 29. Januar dieses Jahres, nachdem ich auf dem Saigoner Flughafen gelandet war, ausgingen. Die rasante Fahrt mit dem fortwährend hupenden Taxi, dass Quirlige und Geschäftige dieser Millionenstadt mit seinem lebendigen und doch für mich so fremden Cho Lon – der Chinatown Saigons – auf der einen Seite... und dann die vielen Geschäfte mit heruntergelassenen Rollläden.
Rote Fahnen anlässlich Tet-Feierlichkeiten in Saigon am 30.01.09 hier vor dem ‚Museum of Ho Chi Minh City of fine arts’ .
Die mit zehntausenden roter Fahnen geschmückte riesige Stadt: in Feiertagsstimmung! Und doch nur wenige Menschen auf den Straßen der Vorstädte. Alle waren ausgeflogen, aufs Land zu ihren Verwandten und Familien. Geschäftigkeit auf der einen Seite und Familiensinn – starke familiäre Bande scheinen wichtige Parameter der vietnamesischen Gesellschaft zu sein.
Zuerst zur Familie, sie ist als so etwas wie die Keimzelle der Gesellschaft anzusehen. Von ihr geht alles aus. So kennen im Kleinen als auch im Großen die Vietnamesen durch ihre gesellschaftlichen Strukturen aus ihrer Geschichte...
„... nur drei Formen der Ordnung und Organisation, Familie, Dorf und Staat. Die Familie bildet das Modell für das Dorf, das Dorf ist das Modell für den Staat. Und umgekehrt: wie der Kaiser (die Partei) dem Staat vorsteht, so das Familienoberhaupt der Familie, und wie der Vater für die Familie verantwortlich ist, so der Kaiser (die Partei) für das Volk. Das gesamte Dasein jedes Vietnamesen ist (horizontal) auf gegenseitige Verpflichtungen und (vertikal) auf unumstößliche Hierarchien ausgerichtet. Der Einzelne ist niemals Individuum, sondern in erster Linie Mitglied (mit festgelegten Rechten wie Pflichten) einer Familie, einer Dorfgemeinschaft, einer sozialen Gruppe und der Nation.
( aus: Kothmann, Hella; Bühler, Wolf-Eckhart / Vietnam / Bielefeld 2008 / Seite 125 )
Ob dem tatsächlich in jungen modernen Familien so ist, möchte ich dahingestellt lassen. Als ich in der jungen Familie, den Bekannten der Hotelmanagerin Minh Phuong des Dengion-Resorts am Rande der kleinen Stadt Thap Cham in der Nähe des Südchinesischen Meers war, hatte ich eigentlich einen anderen Eindruck. Die Paare schienen gleichberechtigt und allem Modernen aufgeschlossen... ich kann mich aber irren?! Die oben ursprünglichen Kategorien scheinen zumindest für die Entwicklung bis vor Jahren zuzutreffen.
Bei Freunden der Hotelmanagerin Minh Phuong im Kreise ihrer Freunde und befreundeten Paare am 8.02.09 am Rande von Thap Cham nahe dem südchinesischen Meer
Durch eine Geschichte, in der sich das vietnamesische Volk immer wieder gegen fremde Mächte durchsetzen musste, hat es einen erstaunlichen Willen zum Überleben entwickelt. Von der Jahrhunderte währenden Unterdrückung durch die Chinese, die Besetzung des Landes durch die französischen Kolonialisten in den letzten beiden Jahrhunderten, bis zum unsäglichen Krieg der US-Amerikanischen Truppen und ihren Verbündeten, den südvietnamesischen Marionetten, zieht sich der Überlebenskampf seit über zweieinhalb Jahrtausenden durch die Geschichte der Vietnamesen.
„ Als die Franzosen um 1860 ins Land kamen, lebten etwa 8 Mio. Menschen in Vietnam, nach dem Krieg waren es 50, heute sind es rund 86 Mio.
Die momentane Wachstumsrate von 1,3% bedeutet, dass Vietnam jedes Jahr mehr als 1 Mio. Münder zusätzlich zu füttern hat – eine schwere Bürde für ein Land, in dem noch 2/3 der Bevölkerung in der (ökonomisch gesehen) unprofitablen Landwirtschaft tätig sind. Gezielte Familienpolitik hat die Geburtenrate zuletzt deutlich gesenkt, aber noch nicht erfolgreich genug. Über die Hälfte aller Vietnamesen ist heute jünger als 20 Jahre, über ein Drittel (34%) noch nicht einmal 14 Jahre alt.“
(aus. Kothmann,H. / Vietnam / a.a.O. Seite 132)
Die heute in den Städten lebenden Familien, die aber, wie zu sehen ist, sich in der Minderzahl befindet, umfassen längst nicht mehr die großen Mitglieder, wie es vor Jahren der Fall war. Durch gezielte Familienpolitik reduzierte sich die Zahl jüngerer Familien deutlich.
Vietnamesische ‚Kleinfamilie’ auf dem Weg aus dem Literaturtempel in Hanoi am 22.02.09
Die ‚Stadtkultur’ hat sich erst mit der Kolonialisierung durch die Franzosen im 19. Jahrhundert entwickelt. Zu dieser Zeit gab es erst eine tatsächliche Stadt im Sinne des europäischen Begriffes, der im Mittelalter seine Prägung bekommt. Nur Hanoi war damals tatsächlich als Stadt zu bezeichnen.
„ Die heutigen Millionenstädte Saigon und Haiphong sind ebenso erst Gründungen der Franzosen wie etwa der Badeort Vung Tau, der Kurort Da Lat oder die Häfen Da Nang und Can Tho.
Skizze eines der typischen Kolonialbauten der Stadt Saigon/Ho Chi Minh City, das von Gustave Eiffel – demselben Architekten gleichnamigen Pariser Wahrzeichens – mit entworfene Postgebäude nahe des Saigoner Wahrzeichens der neoromanische Kathedrale Notre Dame am 30.01.09
Dramatisch schwollen die Städte erst in den Jahren vor und während des amerikanischen Krieges an. Während die Amerikaner den Norden ‚in die Steinzeit ‚ zurückbombardieren wollten, versuchten sie, den Süden ‚vom Mittelalter ins 20.Jh.’ zu katapultieren. Die vorsätzliche Produktion von Flüchtlingsströmen zum Zweck reibungsloser Kriegsführung entvölkerte ganze Landstriche, während sie Militärbasen wie Da Nang, Bien Hoa, Qui Nhon, Cam Ranh und Nha Trang binnen weniger Jahren auf das 10 - 20fache ihrer ursprünglichen Größe schwellen ließ. Nach dem Fall Saigongs 1975 vegetierten 45% aller Südvietnamesen (im Norden 18%) in ‚urbanen Ballungsgebieten’, einer beschönigenden Umschreibung für Slums und Shantytows aus Pappe und Wellblech (,vor sich hin, der Tagebuchschreiber). Über 10 Mio. Menschen waren obdachlos, und das Grundnahrungsmittel Reis, das die Franzosen zuvor noch in alle Welt verscherbelt hatten, musste aus den USA (später aus der Sowjetunion) importiert werden. „
(aus: Kothmann, H. a.a.O. Seite 132)
Als zweite bemerkenswerte Eigenart habe ich die bereits erwähnte Geschäftigkeit, Quirligkeit aber auch Geschäftstüchtigkeit, gepaart mit einem schon fast sprichwörtlichen Überlebenswillen. Woher rührt diese Energie und dieser Eifer, Probleme zu bewältigen. Man muss, so glaube ich, vieles auch aus der Geschichte dieses zum Überleben gewillten Volkes herleiten.
Als ideologische Grundlage, die in der Geschichte Vietnams eine wesentliche Rolle gespielt haben, sind zwei fast widerstrebende Strömungen auszumachen, die sich aus dem chinesischen Rationalismus des Konfuzianismus und der Spiritualität des indischen Hinduismus und Buddhismus speisen.
„Mehr als tausend Jahre lang von den Chinesen in ihrem Stammland im Delta des Roten Flusses festgehalten und kolonisiert, befreiten sie sich erst im 10.Jh. von diesem Joch, benötigten aber noch einmal etliche Jahrhunderte, um zu der Nation zu werden, die sie heute sind.“
(aus: Kothmann, H. a.a.O. Seite 134)
In dieser Zeit der chinesischen Kolonialisierung, deren Han-Dynastie – ähnlich der Römer in Europa zur gleichen Zeit – ganz Asien beherrschte, besaßen die Vorfahren der Vietnamesen, die am Delta des Roten Flusses siedelten, keine eigene Schrift, aber schon eine eigene Sprache. Der ‚lose’ und ‚unchinesische’ Umgang der Viets untereinander, werden von den chinesischen Besatzern, vor dem Hintergrund des Konfuzianismus als ‚barbarisch’ und nicht den genuin südostasiatischen Sitten und Gebräuchen gemäß, degradiert. (dazu gehören vor allen Dingen: Körpertätowierungen, Betelnuss-Kauen, Zähne-Schwärzen). Diese von den chinesischen Kolonialisten verfolgten Sitten und Gebräuche, die ursprünglich aus der mutterrechtlichen Familienorganisation der Viets herrühren, werden von ihnen als mit dem konfuzianischen rationalen Ordnungs- und Gesellschaftssystem Verhafteten, strengstens bekämpft und geahndet. Ein Zitat, aus einem Bericht eines chinesischen Mandarins um 200 nach dem Beginn unserer Zeitrechnung mag diese Aversionen der Chinesen belegen:
„Wir haben ihnen beigebracht, wie man die Felder bestellt, Schulen errichtet und ihnen gezeigt, wie man ordnungsgemäß heiratet. Was aber passiert? Die Familienoberhäupter rufen noch immer zu wilden und zügellosen Festen auf, bei denen die Jungen und Mädchen sich in Scharen in die Büsche schlagen und Mann und Frau werden, ohne dass die Eltern das Geringste zu sagen hätten. Kurz gesagt, die Menschen hier sind wie die Wanzen,“
(aus: Kothmann, H. a.a.O Seite 135)
Vietnam heute: ‚Foto-shooting’ eines frisch vermählten vietnamesischen Brautpaares auf den Ruinen der Cham in My Son am 14.02.09
Brautpaar feiert in einem bekannten Café in der Altstadt Hanois mit Verwandten, Freunden und Bekannten ihre Hochzeit am 19.02.09
Es sollte noch über siebenhundert Jahre dauern, bis im Jahre 939 es dem Provinzfürsten Ngo Quyen gelang, die chinesischen Besatzer zu vertreiben. Seine Seeleute versenkten mittels schwerer Kriegsdschunken, mit spitzen, eisenbewehrten Pfählen bewehrt, die chinesische Armada an der Flussmündung des Bach Dang-Flusses.
Es folgt das 733 Jahre währende Kaiserreich Dai Viet (939-1672).
Als kurzes Zwischenspiel zu werten ist das zwanzig Jahre dauernde chinesische Intermezzo der Ming-Dynastie (1408-28), in der die ersten Formen von Guerilla-Kriegsführung von den zukünftigen Vietnamesen angewandt werden. Unter dem wohlhabenden Grundbesitzer Le Loi unter Mithilfe seines genialen Chefstrategen, dem Dichter Nguyen Trai, führte mittels einer schlagkräftigen Bauernarmee zum Erfolg. Die Chinesen wurden endgültig aus dem Lande vertrieben!
In den Jahren dringen die Vietnamesen weiter in den Süden, in das Land der Cham und danach in das Land der am Delta des Mekong lebenden Khmer vor.
Als die Vietnamesen 1471 unter Kaiser Le Thanh Ton Yijaya die letzte Hauptstadt der Cham erobern, ändert sich der Lauf ihrer Geschichte radikal.
Cham-Bauwerk in Thap Cham am 8.02.09
Der Cham-Turm in Thap Cham aus der Nähe (mit Fotomodell; zu der Zeit meiner Anwesenheit wurden dort Modeaufnahmen gemacht) 8.02.09
Aus dem kleinen traditionell nach Norden ausgerichteten Feudalstaat im Schatten Chinas wird eine mächtige Nation Südostasiens werden.
Zunächst aber zerreißen Bürgerkriege das Land (Waren es wirklich Bürgerkriege oder eher Bauernaufstände, der Tagebuchverfasser). Nach einem Umsturz (1527) verhelfen zwei ‚kaisertreue’ Fürstengeschlechter dem ins Exil geflüchteten Le wieder zum Thron, bekriegen sich danach aber gegenseitig, um die eigentliche Herrschaft an sich zu reißen. Die siegreichen Trinh erben Hof und Armee in Hanoi, die unterlegenen Nguyen rufen 1620 im ‚unzivilisierten’ Süden einen Gegen-Staat mit der Hauptstadt Hue aus.
1535 tauchen die ersten Portugiesen vor der Küste Vietnams auf und errichten im damals von den Cham gebauten Hafen Faifo (Hoi An) ihre erste Handelsniederlassung (Forts und Kanonen gegen Gold, Seide, Elfenbein und Gewürze). Auf diese Weise mischen sich die Portugiesen auf Seiten der Nguyen-Fürsten gewinnbringend in den ‚Bürgerkrieg’ ein.
Im Gefolge der Neuankömmlinge lassen ihre Ideologen nicht lange auf sich warten. Den Händlern folgen Missionare, was in der homogenen konfuzianischen Gesellschaft Spannungen größeren Ausmaßes auslöst.
„ So überlegen das rationale und ‚aufgeklärte’, sino-vietnamesische System sich gegenüber der auf Angst und Sklaverei gegründeten Sozialordnung der hinduistischen Nachbarn (hier sind die Cham gemeint, der Tagebuchschreiber) erwies, so unterlegen erweist es sich gegenüber dem chistlich-humanistisch verbrämten Imperialismus der europäischen Eroberer.
1627 entwickelt der französische Jesuit Alexandre de Rhodes das quoc ngu, das in romanische Schrift übertragene Vietnamesisch mit den Betonungs_Akzenten, wie sie noch heute üblich sind, und publiziert ein vietnamesisches Wörterbuch.“
(aus: Kothmann, H. a.a.O. Seite 139)